Inhaltsverzeichnis
Enge und Weite – Heidelberg und seine Heiliggeistkirche – Zur Geschichte der Kirche
Das Heidelberger Stadtbild verdankt seine viel gerühmte Schönheit wesentlich der Balance markanter Gegensätze: Der harmonischen Einbettung der historischen Altstadt in eine anmutige Landschaft, die ihrerseits Kontraste in sich vereint, die Enge des Neckartals und die Weite der Ebene, Berge und Fluss, Schloss und Brücke, dann aber auch, was bis heute den besonderen Charme der Altstadt ausmacht, letztlich jedoch Ergebnis einer Katastrophe ist, der Stadtzerstörung im Pfälzisch-Orléanschen Erbfolgekrieg: Die Verbindung eines mittelalterlich engen Straßen- und Gassennetzes mit barocker Neubebauung – ein Widerspruch an sich, da im Barock generell Wert auf Monumentalität, Grandezza und Klarheit gelegt wurde.
Doch Zustand und finanzielle Verhältnisse der 1693 im Erbfolgekrieg nahezu dem Erdboden gleich gemachten Stadt erlaubten es nicht, sie in der vom Kurfürsten geplanten Großzügigkeit neu erstehen zu lassen. Die Bürger widersetzten sich der verordneten Modernisierung und verjagten die vom Fürsten entsandten Planer. Statt dessen bauten sie ihre Stadt eiligst und mit bescheidenen Mitteln wieder auf und schufen so, der Not gehorchend, auf den Grundmauern ihrer abgefackelten Häuser jene heute als romantisch empfundene und in ihrer Art tatsächlich einzigartige, die historischen Strukturen bewahrende Synthese aus mittelalterlichem Substrat und bescheidener, aber anmutiger barocker Architektur.
Auch später haben sich die Heidelberger immer wieder radikalen Modernisierungsversuchen widersetzt – nicht immer mit, aber auch nicht völlig ohne Erfolg. Es scheint, als habe die mitunter fruchtbare, oft jedoch keineswegs konfliktfreie Dialektik von Alt und Neu, von Enge und Weite, auch Eingang gefunden in die Mentalität der Bevölkerung, bis hin zum wechselnden Mit- und Gegeneinander der Konfessionen. Auch die Erhaltung des zerstörten Schlosses als Ruine gehört in diesen Zusammenhang: Pläne, es wieder aufzubauen, scheiterten in erbitterten Diskussionen, die der modernen Denkmalpflege Geburtshilfe leisteten und Heidelberg letztendlich das Schicksal einer „Disneyfizierung“ ersparten.
Die dialektische Spannung landschaftlicher, aber auch zeitbezogener Gegensätze, „Coincidentia oppositorum“ im Sinne des Philosophen und Theologen Nikolaus von Cues, lässt sich in Heidelberg auf verschiedensten Ebenen erleben, nicht zuletzt in Geschichte und Gestalt der Heidelberger Heiliggeistkirche. Denn neben Berg, Fluss, Schloss und Brücke sind es vor allem die Kirchen, die bis heute mit ihren Türmen das Stadtbild prägen. Es sind, nachdem Reformation und Säkularisation die zahlreich vorhandenen Klöster und Klosterkirchen beseitigt haben, heute im historischen Zentrum vor allem noch vier: Heiliggeist– und Jesuitenkirche sowie Peters– und Providenzkirche. Von ihnen allen muss im Folgenden wenigstens kurz die Rede sein.
Älteste Heidelberger Pfarrkirche war – bis zur Eingemeindung einiger wesentlich älterer Dörfer – die 1196 erstmals bezeugte heutige Universitäts- und Konzertkirche St. Peter. Die Lage der im Lauf der Jahrhunderte mehrfach veränderten, heute in wesentlichen Teilen aus dem 19. Jahrhundert stammenden Kirche außerhalb des städtischen Mauerrings deutet auf eine unterhalb der Burg gewachsene Siedlung hin, die wohl älter war als die um die Mitte des 12. Jahrhunderts von Konrad von Hohenstaufen, dem Halbbruder Friedrich Barbarossas, planmäßig angelegten Stadt.
Deren dominierendes Zentrum aber ist die Heiliggeistkirche, in deren Geschichte und Gestalt die erwähnte Polarität der Gegensätze, dem Bild der Altstadt entsprechend, in besonderer Weise erfahrbar wird: Der gotische Bau hat zwar die Zerstörungen des Erbfolgekriegs überlebt, doch das gebrochene Mansarddach, die geschwungene Turmbekrönung und die Seitenportale künden von seiner Wiederherstellung in der Barockzeit.
Damals, als nach dem Krieg die katholischen Kurfürsten des Hauses Pfalz-Neuburg die Herrschaft über die mehrheitlich protestantische Stadt angetreten hatten, wurde in Heiliggeist das Simultaneum eingeführt: Den Katholiken wurde 1698 der Chor, den Protestanten das Schiff zur Nutzung zugewiesen. Um Streitigkeiten zu vermeiden, wurde 1705 eine Scheidemauer eingebaut, die, mehrfach abgetragen und wieder aufgerichtet, schließlich erst 1936, zur 550-Jahrfeier der Gründung der Heidelberger Universität, endgültig entfernt wurde – auch dies ein Beispiel für die Polarität von Enge und Weite. Doch gehen wir zunächst noch einmal einige Schritte zurück.
Mit der Gründung der Universität ist die Baugeschichte der Heiliggeistkirche, die hier nur sehr abgekürzt referiert werden kann, engstens verwoben. Eine erste Erwähnung der im neuen Zentrum der Stadt erbauten Kirche, damals noch Filiale von St. Peter, ist 1239 bezeugt. In diesem wesentlich kleineren Vorgängerbau der heutigen Kirche, der seinerseits einen durch Grabungen belegten Vorgänger hatte, wurde auf Initiative von Ruprecht I. (1353-1390) – die Pfalzgrafen waren seit der Goldenen Bulle 1356 zu Kurfürsten avanciert – am 18. Oktober 1386 die Heidelberger Universität gegründet, die älteste auf heute deutschem Boden.
Ihre Gründung geht auf politische und kirchliche Kontroversen in Paris und Prag zurück: Das Schisma von 1378 hatte die Kirche entzweit, die Pariser Universität hielt zum in Avignon residierenden Papst Clemens VII., die Deutschen hingegen zu dem in Rom verbliebenen Urban VI. Hinzu kamen Streitigkeiten zwischen Deutschen und Tschechen in der 1348 gegründeten Universität in Prag. Der Kurfürst nutzte die Situation als günstige Gelegenheit, den heimatlos gewordenen Professoren und Studierenden beider Universitäten eine neue Wirkungsstätte einzurichten und damit zugleich durch die Gründung einer Universität seine Stadt und Herrschaft aufzuwerten, wozu dann, nach einer großzügigen Spende, Papst Urban Segen und Zustimmung erteilte. Die notwendigen Gelder wurden durch die Beschlagnahme jüdischen Eigentums beschafft.
Unter Ruprecht III. (1398-1410) wurde 1399 der Chor der romanischen Vorgängerkirche abgebrochen und mit dem Neubau eines weiten, lichten Hallenchors begonnen, der sowohl als Versammlungsort der Kanoniker – alle Professoren waren damals Geistliche und lebten von ihren Pfründen – als auch als fürstliche Grablege konzipiert war. Heidelberg war Residenzstadt geworden, die pfalzgräfliche, nun aber kurfürstliche Grablege wurde von Neustadt nach Heidelberg verlegt. Hinzu kam, dass Ruprecht III. im August 1400 als Ruprecht I. zum Nachfolger des als unfähig und unwürdig abgesetzten Königs Wenzel (Lebensdaten 1361-1419) gewählt wurde: Grund genug, am Ort der Residenz nun einen adäquaten, wahrhaft königlichen Bau zu planen und zu realisieren.
Die Vorbilder für den im neuen gotischen Stil erbauten Chor finden sich in Prag, Schwäbisch Gmünd und Nürnberg, sicher auch in der lichtdurchfluteten königlichen „Sainte Chapelle“ in Paris. Der Chor blieb zunächst noch an das enge, dunkle und niedrige romanische Langhaus angeschlossen, woraus sich die im Grundriss trapezförmige Anbindung an das später begonnene und 1441 vollendete spätgotische Kirchenschiff erklärt, das man aus Sparsamkeitsgründen auf den Fundamenten der Vorgängerkirche errichtete.
Hieraus ergibt sich, wie bereits angedeutet, der spannungsreiche Kontrast von Enge und Weite, den der Kirchenbesucher auch heute noch als faszinierenden Weg aus dem vergleichsweise dämmrigen engen und steilen Langhaus in die lichte Weite des durch die trapezförmige Einschnürung geradezu zentralbauartig wirkenden, fast nur aus Fenstern und schlanken Rundpfeilern bestehenden Hallenchores erlebt – ein Kontrast, der später auch eine wichtige Rolle spielte für das Konzept der nicht realisierten Fenster von Johannes Schreiter, von dem später noch die Rede sein wird.
Die Pfeiler des Chores symbolisieren die zwölf Apostel, Träger und Stützen des Kirchengebäudes, das seinerseits Symbol ist für die Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen. Denn mittelalterliche Architektur ist immer auch inhaltlich bestimmt, ist abbildende Kunst, theologische Aussage, aber durchaus auch eine politische – man beachte in diesem Zusammenhang den Reichsadler im Gewölbeschlussstein. Schließlich war der pfälzische Kurfürst der ranghöchste der weltlichen Kurfürsten, privilegiertes Mitglied des erlauchten Gremiums, dem es oblag, den König zu wählen: Und nun war es der Pfälzer selbst, der die Königswürde erlangt hatte. Ein zweiter König aus der gleichen kurfürstlichen Familie, Friedrich V. (1616-1619, im Exil gestorben 1632), hat später Heidelberg ins Verderben gestürzt, als er mit der leichtfertigen Annahme der Böhmischen Königskrone den Dreißigjährigen Krieg auslöste.
Doch zurück zur Baugeschichte von Heiliggeist: Bereits im Juli 1400 war die Trennung von der Mutterkirche St. Peter vollzogen und Heiliggeist in den Rang einer Kollegiatskirche erhoben worden. 1413 folgte die formelle Vereinigung des Heiliggeiststiftes mit der Universität und die Erhöhung der Pfründen auf zwölf. Inmitten des Chores aber wurde das Hochgrab seines Stifters aufgestellt, das einzige Fürstendenkmal der Kirche, das die Zerstörungen und Plünderungen des Erbfolgekriegs überstanden hat und sicher auch das einzige Königsgrab im Bereich der Badischen Landeskirche. Die schöne Deckplatte mit den ruhenden, mit geöffneten Augen die Auferstehung erwartenden oder bereits erlebenden Figuren Ruprechts und seiner Gemahlin Elisabeth von Hohenzollern, qualitätvollen Skulpturen des sog. „Weichen Stils“, hat heute im linken Seitenschiff der Kirche einen würdigen Platz gefunden.
Zu erwähnen ist eine weitere Besonderheit: Die „schönste Hallenkirche am Oberrhein“, wie sie mit Fug und Recht genannt wird, ist keine „normale“ Hallenkirche, vielmehr ein Hybrid, ein Zwitter, eine einzigartige und höchst ungewöhnliche Synthese aus den Architektur-Typen Basilika (hohes Mittelschiff und flankierende niedrige Seitenschiffe) und Halle (alle Schiffe gleich hoch): Die basilikalen Seitenschiffe sind von Emporen überhöht, die aus dem einzigen Grund erbaut wurden, einen sicheren Ort für die berühmte Bibliothek des leidenschaftlichen Büchersammlers Ludwigs III. (1410-1436) bereit zu stellen. Schon 1421 hatte der Kurfürst verfügt, die Bibliothek nach seinem Tod dem Heiliggeist-Stift zu überlassen. Später, nach der Aufhebung der Klöster in der Reformation, wurden auch deren Bibliotheken der „Bibliotheca Palatina“ einverleibt, die damit zur weltweit umfassendsten und bedeutendsten Bibliothek avancierte.
Im Dreißigjährigen Krieg wurde die Bibliothek von Tilly als Kriegsbeute nach München „entführt“ und dem Papst als „Geschenk“ übergeben. Sie bildet heute einen wichtigen Teil der berühmten Biblioteca Vaticana. Wahrscheinlich wurde sie durch diesen „Raub“ vor dem sicheren Untergang in späteren Kriegen bewahrt. Eine Sensation und ein bemerkenswertes Zeichen der Versöhnung war, dass es 1986 aus Anlass der 600-Jahrfeier der Universitätsgründung dem damaligen Direktor der Universitätsbibliothek, Elmar Mittler, gelang, einen wesentlichen Teil der „Bibliotheca Palatina“ als Leihgabe des Vatikans nach Heidelberg zu holen und am Ort ihrer „alten Heimat“, auf den Emporen der Heiliggeistkirche, zu zeigen. Nahezu 300 000 Besucherinnen und Besucher sahen damals diese wohl erfolgreichste Ausstellung, die je in Heidelberg stattfand. Für die Zukunft ist geplant, eine Dauerausstellung zum Thema der Bibliothek auf den Emporen einzurichten.
Gehen wir nochmals einige Schritte zurück: Inzwischen hatte die Reformation Heidelberg verändert. 1518 besuchte Martin Luther Heidelberg und erläuterte im Auftrag seines Ordens im Generalkapitel der Augustiner vor einem gelehrten Publikum seine Theologie. Unter den Zuhörern saßen Martin Bucer und Johannes Brenz, die späteren Reformatoren des Elsass und Württembergs. Seither breitete sich auch in der Kurpfalz reformatorisches Gedankengut aus. 1546 fand in der Heiliggeistkirche der erste evangelische Abendmahlsgottesdienst statt. Nach dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 führte Kurfürst Ottheinrich (reg. 1556-1559) offiziell die Reformation ein, verbot den katholischen Gottesdienst und ließ Bilder und Altäre aus den Kirchen entfernen.
Nach seinem Tod jedoch brachen erbitterte Streitigkeiten zwischen Lutheranern und Reformierten aus. Unter Ottheinrichs Neffen und Nachfolger, Friedrich III., genannt „der Fromme“ (reg. 1559-1579), wurde die gemäßigte lutherische Kirchenordnung durch ein streng kalvinistisches Reglement ersetzt. 1563 erschien der bis heute in reformierten Regionen verbindliche „Heidelberger Katechismus“, und es kam zum rigorosen „Abtun der Bilder“, einem der verheerendsten Bilderstürme der Geschichte, in dem die Gotteshäuser der gesamten Kurpfalz, ehedem eine blühende Kulturlandschaft, endgültig ihre kostbare und reiche mittelalterliche Ausstattung verloren.
Insgesamt siebenmal mussten die Heidelberger ihre Konfession wechseln – mehrfach während des durch Friedrich V. ausgelösten Dreißigjährigen Kriegs, an dessen Ende, nach dem Tod des „Winterkönigs“ im holländischen Exil, seine Ehefrau, die englische Königstochter Elizabeth Stuart, die Wiederherstellung der Kurfürstenwürde für ihren Sohn Karl Ludwig (1648-1680) erreicht hatte, womit nun eine Periode des Wiederaufbaus und der Neubesiedelung Heidelbergs begann. Erstmals gab es Religionsfreiheit, der Kurfürst, wiewohl reformiert, gewährte den Katholiken die „devotio domestica“, was besagt, dass sie ihren Glauben ausüben durften, zwar nicht öffentlich, aber immerhin in privaten häuslichen Gottesdiensten.
1650 bestätigte Karl Ludwig den Lutheranern ihre Rechte, sie durften sich eine eigene Kirche bauen, allerdings damals noch bescheiden, ohne Turm und Glocken. Der Kurfürst selbst nahm 1659 die Grundsteinlegung vor, bei der Weihe 1661 erhielt die Kirche nach seiner Devise „Dominus providebit“, der Herr wird sorgen, den Namen „Providenzkirche“. In Mannheim ließ er 1680 die heute noch bestehende „Konkordienkirche“ als „Kirche der Einheit“ erbauen, die von Reformierten, Lutheranern und Katholiken gemeinsam benutzt werden sollte, wozu es freilich dann doch nicht kam: Die Zeit war noch nicht reif dafür. Die Providenzkirche wurde mehrfach umgebaut. Ihren Turm erhielt sie 1717-1721 bei ihrer Wiederherstellung nach den Zerstörungen im Erbfolgekrieg.
Tragisch war, dass Karl Ludwig um der guten Nachbarschaft zu Frankreich willen seine Tochter Elisabeth, die berühmte „Liselotte von der Pfalz“, mit dem Herzog von Orleans, dem Bruder des französischen Königs Ludwig XIV., verheiratete, was diesem 1685, nach dem frühen Tod von Karl Ludwigs Sohn Karl II., zum Vorwand diente, im Namen seiner darüber zutiefst unglücklichen Schwägerin Ansprüche auf die Kurpfalz zu erheben und diese gewaltsam durchzusetzen: 1689 und dann noch einmal 1693 wurde Heidelberg mit Waffengewalt von dem französischen General Melac eingenommen, geplündert und zerstört.
Die Bevölkerung flüchtete sich in die Heiliggeistkirche, ein Brand löste eine Massenpanik aus, die Franzosen hatten die Türen verschlossen, und nur dem mutigen Einsatz des Pfarrers Johann Daniel Schmidtmann ist es zu verdanken, dass die Türen geöffnet wurden und die Eingeschlossenen entkamen. Die Soldaten aber schändeten die Gräber und verstreuten die kurfürstlichen Leichen auf dem Markt.
Ludwig XIV. hatte sein – aus seiner Sicht juristisch gerechtfertigtes – Ziel, die Kurpfalz seinem Reich einzuverleiben, nicht erreicht, doch ließ er triumphierend eine Münze mit der Inschrift prägen „Heidelberga deleta“ („Heidelberg ist zerstört“) und verteilte sie an Verbündete und Gäste. Die Kurpfalz aber wurde nach dem Frieden von Rijkswijk 1697 von der in Düsseldorf residierenden Linie Pfalz-Neuburg regiert, die, ursprünglich protestantisch, vor einiger Zeit zum Katholizismus übergetreten war. Mit Kurfürst Johann Wilhelm, 1690-1716, zog die Gegenreformation in der Pfalz ein, allerdings in gemäßigter Form, denn die Zeiten hatten sich geändert: Die Aufklärung hatte an Einfluss gewonnen, und „Jan Willem“ gewährte Religionsfreiheit, was aber keineswegs bedeutete, dass in der Praxis Katholiken und Protestanten gleichberechtigt gewesen wären, zumindest fühlten sich letztere benachteiligt, zumal und gerade weil sie zahlenmäßig in der Mehrheit waren.
Klöster wurden wieder und auch neu errichtet, die Jesuiten, die bereits während des Dreißigjährigen Kriegs vorübergehend in Heidelberg gewirkt hatten, kehrten zurück und reorganisierten die Universität. Ihre Kirche, die heutige katholische Hauptkirche Heilig Geist, wurde in einer für die Barockzeit ungewöhnlich konservativen Weise, vielleicht bewusst in Anlehnung an die längst protestantisch gewordene Heiliggeistkirche, als Hallenkirche, erbaut – erst unter Kurfürst Karl Theodor (1742-1799) erhielt sie ihre von Franz Wilhelm Rabaliatti (1716-1782) triumphal nach römischem Vorbild gestaltete Fassade.
1698 wurde vom Kurfürsten das Simultaneum erlassen, eine nach einem kompliziertem Schlüssel berechnete Aufteilung der Nutzung kirchlicher Bauten durch beide Konfessionen, wobei bei großen Kirchen eine Teilung des Raumes stattfand, so auch in der Heidelberger Heiliggeistkirche, die in der bereits beschriebenen Weise wieder hergestellt wurde, mit barock gebrochenem Dach, entsprechend geschwungener Turmbekrönung und barocken Portalen. Das barocke Hauptportal wurde später an die Nordseite der Kirche versetzt, das heutige „gotische“ ist eine Rekonstruktion des 20. Jhs. Der Chor wurde dem katholischen, das Schiff dem protestantischen Kult zugewiesen – eine sowohl den Zahlenverhältnissen als auch den liturgischen Bedürfnissen durchaus angemessene Teilung. Da jedoch damit keineswegs alle Schwierigkeiten ausgeräumt waren, wurde 1705 wie auch andernorts – etwa in Mosbach oder Neustadt, dort noch heute erhalten – die erwähnte Trennmauer errichtet.
Hatte Johann Wilhelm noch versucht, jeden Konflikt mit der protestantischen Mehrheit der Heidelberger Bevölkerung zu vermeiden, so eskalierte der längst schwelende Konflikt unter seinem Bruder und Nachfolger Carl Philipp (1716-1742), der darauf bestand, nicht nur das Langhaus, sondern die gesamte Heiliggeistkirche als einstige Hof- und Begräbniskirche seines Hauses für den katholischen Gottesdienst in Gebrauch zu nehmen. Er versprach den Protestanten der Bau einer gleich großen neuen Kirche in nächster Nähe, doch wollten sich diese darauf nicht einlassen, worauf der Kurfürst in einer Nacht und Nebelaktion die Trennmauer beseitigen ließ. Der dadurch ausgelöste Protest der Protestanten, die mit einer Intervention des preußischen Königs drohten, war so stark, dass die Mauer wieder errichtet wurde und der Kurfürst im Zorn Heidelberg verließ und seine Residenz nach Mannheim verlegte.
Die Katholiken statteten nun ihren Chor reich aus – als einziges Einrichtungsstück aus dieser Zeit hat sich vor Ort noch bis heute die 1728 von Matthias Nestler speziell für einen der Chor-Rundpfeiler gearbeitete Kanzel erhalten. Drei bedeutende Barockaltäre wurden 1809 in die durch 15-jährigen militärischen Gebrauch ruinierte ehemalige Jesuitenkirche übertragen, die den Katholiken, nachdem der Heiliggeistchor für die gewachsene Gemeinde zu klein geworden war, damals als Pfarrkirche überlassen wurde. Mit der Choreinrichtung nahmen sie auch das Heiliggeist-Patrozinium mit, sodass Heidelberg wahrscheinlich weltweit die einzige Stadt ist, die zwei sowohl kirchlich wie architektonisch und künstlerisch bedeutende Heiliggeistkirchen beherbergt, noch dazu in unmittelbarer Nähe und heute endlich auch in harmonischer ökumenischer Zusammenarbeit: Die evangelische Heiliggeist-Kirche und die katholische Pfarrkirche Heilig Geist.
1870 wurden die Barockaltäre als angeblich künstlerisch wertlos entsorgt, nur das vom kurpfälzischen Hofbildhauer Paul Egell geschaffene Tabernakelrelief (heute in dem der ehem. Jesuitenkirche angeschlossenen „Museum für sakrale Kunst und Liturgie“) und einer der beiden Seitenaltäre wurden gerettet (heute als Hochaltar in der katholischen Kirche auf dem Dilsberg). Der Heiliggeist-Chor aber diente zeitweilig der altkatholischen Gemeinde als Gottesdienstraum.
1886 ließ die badische Regierung zum 500-jährigen Universitätsjubiläum die Trennwand entfernen, doch musste sie 1894 nach einer Klage der katholischen Gemeinde vor dem Reichsgericht wieder aufgerichtet werden. Erst 1936, zum 550-jährigen Jubiläum, wurde sie auf Betreiben des Pfarrers und späteren Prälaten Hermann Maas (1877-1970) endgültig entfernt. Maas, ein engagierter Retter und Helfer vieler jüdischer Mitbürger während der Zeit der Nazi-Diktatur, wurde wenig später wegen seiner kompromisslosen Haltung während des Krieges vom Dienst suspendiert.
Er war nach dem Krieg der erste Deutsche, der eine Einladung nach Israel erhielt und dem in Yad Vashem ein Baum gepflanzt wurde. Eine Ausstellung in der Heiliggeistkirche, die als City- und Konzertkirche, als historisch und kunsthistorisch bedeutendes Ort und weit mehr ist als lediglich eine Gemeindekirche, vielmehr eines der wichtigsten geistigen und kulturellen Zentren der Stadt, das Jahr für Jahr von zigtausenden von Touristen besucht wird, hält die mahnende Erinnerung an ihn wach – in einer Zeit, in der ein solches Erinnern nach wie vor und vielleicht mehr denn je von aktueller Bedeutung ist.
Nach dem Krieg wurde die Kirche jahrzehntelang restauriert, einige wenige vorreformatorische Wandgemälde konnten freigelegt werden, der Heidelberger Bildhauer Edzard Hobbing schuf ein Tympanon für das rekonstruierte gotische Hauptportal sowie Taufstein und Altar, und 1980 wurde von der Firma Steinmeyer in Öttingen als opus 2354 eine große Orgel im Chor aufgestellt. Da das monumentale Werk mit seinen 61 Registern und 4400 Pfeifen auf drei Manualen und Pedal sich an dieser Stelle sowohl optisch wie akustisch als nicht optimal erwiesen hat, gibt es Pläne, die Orgel auf die Westempore zu versetzen, wo schon die Vorgänger-Instrumente ihren Platz hatten, und im Chor eine ergänzende kleinere Chororgel zu installieren.
Dabei gilt es Rücksicht zu nehmen auf das große Westfenster, das keinesfalls verdeckt werden darf, womit das letzte Thema dieses kleinen, keineswegs vollständigen Überblicks über Geschichte und Bedeutung der Heiliggeistkirche angesprochen wäre, das der Fenster. Farbige Fenster, die gleichsam einen Ausblick in jenseitige Sphären ermöglichen und in gotischer Zeit, in der die Technik die weitgehende Auflösung des kompakten Mauerwerks in ein diaphanes Gerüst aus Maßwerk und Glas erlaubte, zugleich so etwas wie eine Bilderbibel für die des Lesens unkundigen Gläubigen waren, hat es in der Heiliggeistkirche selbstverständlich gegeben, doch ist angesichts der Geschichte der Stadt und des Bauwerks nicht verwunderlich, dass sich von der ursprünglichen Verglasung nichts erhalten hat, auch sind bislang keine Belege hierzu bekannt.
Nicht nur Kriegszerstörungen, sondern auch die Bilderfeindlichkeit der Reformierten und das Bedürfnis des Barock nach Helligkeit – einige Reste der Barockbemalung konnten an den westlichen Seitenemporen wieder freigelegt werden – waren einer farbigen Verglasung nicht gerade zuträglich. Im 19. Jahrhundert hat man eine ornamentale Verglasung angebracht, die im Chor und im südlichen Seitenschiff noch erhalten ist und mittlerweile auch Denkmalschutz genießt. Seit 1945 gab es Pläne, der Kirche eine künstlerisch angemessene Neuverglasung zu verschaffen. 1965 erhielt einer der wichtigsten Altmeister einer Erneuerung der Glaskunst, Hans Gottfried von Stockhausen, den Auftrag, ein monumentales Fenster für die Westwand der Kirche zu entwerfen. Der ikonographischen Tradition entsprechend, dass der Westen, der Ort des Eingangs und Ausgangs, die Nahtstelle zur Welt und damit auch der Ort der Entscheidung, des Jüngsten Gerichtes, ist, schuf Stockhausen hier ein farbkräftig expressives Fenster zu Themen der Apokalypse.
1981 erhielt Johannes Schreiter, einer der international profiliertesten und bedeutendsten zeitgenössischen Glaskünstler, den Auftrag, ein Gesamtkonzept für eine Neuverglasung der Kirche zu entwerfen. Ausgehend von den Gegebenheiten der Kirche – Enge und Weite, gedämpfte Helligkeit in den Seitenschiffen, strahlende Helle im Chor – und der Zweckbestimmung der Emporen, auf denen einst das Wissen der Zeit angesammelt war, entwarf er ein Konzept, das im Langhaus anhand von faksimilierten Texten die modernen Wissenschaften repräsentierte, vor rotem Grund, der liturgischen Farbe des Geistes, aber auch des Blutes, des Feuers und der Leidenschaft, mit Rissen und Brandspuren als Zeichen der Vergänglichkeit, versehen. Im Chor sollten dem Strahlen helle Zeugnisse des Glaubens antworten: u.a. Schöpfung, Vater unser, Seligpreisungen.
Nach endlosen Auseinandersetzungen zwischen Befürwortern und Gegnern dieses Konzeptes wurde Schreiter schließlich der Auftrag entzogen, nur das westliche Langhausfenster des Südseitenschiffs, das Physikfenster, fand 1984 seinen vorbestimmten Platz. Es zeigt auf einem angesengten Ringbuchblatt Texte aus Jesaia 54,10 und den Text aus dem Petrusbrief (2 Petrus 3,10): „Es wird aber der Herr kommen wie ein Dieb in der Nacht …. die Elemente aber werden vor Hitze schmelzen und die Erde und die Werke die darauf sind, werden verbrennen“, kombiniert mit der Einsteinschen Formel e=mc² und dem Datum des Atombombenabwurfs auf Hiroshima (6. August 1945). Weitere Fenster des geplanten Zyklus wurden realisiert und befinden sich heute in unterschiedlichen Museen des In- und Auslandes.
In einem zweiten Anlauf wurde die Gestaltung der Fenster im nördlichen Seitenschiff der Berliner Künstlerin Hella Santarossa übertragen. Zwischen 1999 und 2001 gestaltete sie in einer sehr innovativen Sandwich-Technik aus kristallin funkelnden Glasfragmenten, Fotos unterschiedlichster Art und malerischen Elementen dynamisch expressive Collagen aus Glas und Licht zum Thema „Das Wirken des Geistes Gottes in Zeit und Raum“.
Autor: Hans Gercke
Beitrag mit freundlicher Genehmigung entnommen aus dem Buch Erinnerungsorte des badischen Protestantismus, veröffentlicht zum 200-Jahres-Jubiläum der Union aus lutherischen und reformierten Gemeinden im Großherzogtum Baden im Jahr 1821.
Siehe auch
- Einführung: Zur Geschichte der Kirche, Der Bau im Überblick, Alte Pläne und Zeichnungen
- Impressionen: Die Kirche von außen und innen, Die Fenster, Die Ausstattung
- Die Kirche im Detail: Von außen, Von innen, Die Ausstattung
Literatur
- Julian Hanschke: Schloss Heidelberg – Architektur und Baugeschichte – 2015
(enthält ein Kapitel mit neueren Erkenntnissen zur Heiliggeistkirche) - Matthias Köhler: Heiliggeistkirche Heidelberg (Kunstführer) – 2006
- Matthias Schwara: Die Heiliggeistkirche in Heidelberg im Wandel der Zeiten. Ein Beitrag zur Rechtsgeschichte Südwestdeutschlands – 2003
- Werner Keller (Hrsg.): Die Heiliggeistkirche zu Heidelberg: 1398 – 1998 – Ein Schau- und Lesebuch – 2001
- Eberhard Zahn: Die Heiliggeistkirche zu Heidelberg – Geschichte u. Gestalt – 1960
- Adolf von Oechelhaeuser: Die Kunstdenkmäler des Amtsbezirks Heidelberg – Kreis Heidelberg – 1913
Weblinks
- Wikipedia: Gotik, Barock, Romanik
- Wikipedia: Heiliggeistkirche, Bibliotheca Palatina
- Wikipedia: Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Historisches Lexikon Bayerns: Universität Heidelberg (1386-1800)